Der Archetyp des „kränklichen Genies“

Beim kurzen Blick in ein Buch über den Physiker Oppenheimer fiel mir auf, dass er zu einer Art Archetyp des „kränklichen Genies“ gehört. Oppenheimer war ein begabter Junge, der fernab Gleichaltriger wohlbehütet aufwuchs, lieber in Literatur und Wissenschaft versunken. In Konfrontationen mit Jungs in seinem Alter zog er den Kürzeren, weshalb man getrost annehmen darf, dass seine männliche Identität angekratzt war. Auch in späteren Jahren – längst war er genialer Physiker – war ihm eine auffallend schwächliche Statur zu eigen. Vielleicht war diese physische Unterlegenheit gegenüber Männern, selbst wenn sie nur unbewusst in ihm schlummerte, eine Art Triebfeder für den Ehrgeiz in der Wissenschaft. Heute gilt Herr Oppenheimer als Prometheus der Atombombe, die er gewissermaßen ebenso wie der Held der antiken Mythologie das Feuer der Natur für die Menschheit abringen konnte. Der Junge hatte also doch was drauf. In seiner kränklichen, weltfremd-akademischen Art übersah der Gute dabei aber die Konsequenzen; die Kombination von Schwäche im Alltagsleben und Ehrgeiz im Geist kann als Nährboden himmelschreiender Verantwortungslosigkeit angesehen werden.
Zur selben Zeit findet man diesen Archetypus des „kränklichen Genies“ auch auf dem Heiligen Stuhl. Man mag über die Intensität des Protestes von Papst Pius XII. während der Zeit des Nationalsozialismus denken, was man will, unberührt davon bleibt, dass er ein hochintelligenter Mann, abstammend aus einer Kirchenjuristenfamilie, war. Früh schon ging der Weg für den begabten Jungen, begeistert vom Reitsport und der klassischen Musik, in die Hierarchie Roms, die er steil emporklettern sollte, um fast 20 Jahre lang an deren Spitze zu sein. Während seiner Ausbildung war er allerdings von gesundheitlichen Problemen gequält, auch der Zölibat mag etwas zur Schwächung seiner Männlichkeit beigetragen haben. Sicherlich mag man dem promovierten Theologen eine gewisse Weltfremdheit, einhergehend mit einer unrealistischen Einschätzung des Verhalten der Menschen außerhalb des kirchlichen Zirkels unterstellen, eine kompensatorisch-ehrgeizige Unmenschlichkeit kann man ihm aber nicht vorwerfen. Ganz im Gegenteil nämlich setzte sich Pius XII. hochengagiert für die Humanität ein. Man kann vielleicht sagen, dass er seine Kraft dadurch in bessere Kanäle gelenkt hat.
Ein drittes Bespiel für das „kränkliche Genie“ ist der Mathematiker Gödel, berühmt für seine Unvollständigkeitssätze in der mathematischen Logik. Schon in der frühen Jugend litt er oft unter einem sehr schlechten Gesundheitszustand und erzielte dennoch gleichzeitig Bestnoten in der Schule. Kein Wunder, dass sich, als er bereits ein angesehener Mathematiker, eingebarbeitet in ein absurdes und gleichzeitig streng-logisches Denkgebilde, war, entsprechend seines sich schärfenden Verstandes auch seine anfangs begründeten Gesundheitssorgen steigerten. Seine Hypochondrie steigerte sich schließlich soweit, dass er, aus Angst, durch irgendeine übersehene Lücke, eine Unvollständigkeit vergiftetes Essen zu sich zu nehmen, verhungerte.