Das Rätsel

26. 07. 2012
Neulich saßen wir paar Nachbarn aus dem Olympiadorf zusammen beim Grillen. Ich glaube, irgendeiner von ihnen hat da seinen Geburtstag gefeiert. Dabei waren auch ein Physik-Master-Student, der etwas älter als ich ist, und ein Mathe- und Physik-Lehramtsstudent, zwei Semester unter mir. Wie es sich so ergab in der Runde, so hat der Master-Student ein Rätsel ausgepackt, das sein Professor ihm und einigen Kommilitonen bei einer Exkursion erzählt hat. Wir zwei jüngeren wurden natürlich sofort hellhörig: es geht um hundert Kriegsgefangene, die von den Russen erschossen werden sollen. Dabei machen sich die Russen noch einen Spaß aus der Sache und lassen die Gefangenen sich in einer Reihe hintereinander aufstellen und setzen dann einem jeden einen Hut auf. Die Hüte haben eine von drei verschieden Farben. Die Gefangenen, von denen jeder immer nur seine Vordermänner, aber keinen hinter sich sieht, werden dann von hinten her gefragt, welche Farbe denn ihr Hut hat. Ist die Antwort falsch, – peng! – und der nächste darf sein Glück versuchen. Eigentlich ein reines Glücksspiel auf Leben und Tod, möchte man meinen. Doch die Russen sind ja durchaus gnädig und gewähren den Gefangenen, sich vorher kurz zu konsultieren, mit welcher Taktik man denn mehr Leute retten kann, bevor das tödliche Procedere beginnt.
Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass doch so sicherlich auch nicht mehr als die Hälfte der Gefangenen sicher gerettet werden kann. Der eine sagt die Farbe dessen direkt vor ihm, die er ja sieht, riskiert dabei sein eigenes Leben, dafür weiß der Vordermann bescheid. Der sagt seine eigene Farbe, dafür weiß dann der nächste wieder gar nichts und gibt dann einfach wieder dem nächsten einen wohlgemeinten Tipp. Seine sadistische Ader auslebend, wusste unser Nachbar aber nur noch hinzuzufügen: es gibt einen Weg, wie 99 von den 100 Kriegsgefangenen sicher gerettet werden.
Na toll, das ist ja wie bei diesen Matheaufgaben im Studium: zeigen Sie, dass dieses oder jenes gilt. Man weiß schon, worauf es hinaussoll, eigentlich ist die Sache schon klar, und dennoch muss man den genauen Weg der Lösung aus dem Kopf pressen. Einen spontanen Einfall hatten wir dann aber nicht. Nach einer Viertelstunde ließ schon langsam das Interesse nach, ich und ein befreundeter Politikwissenschaftsstudent blieben aber der Sache noch treu. Wenn einfach der hinterste die Farbe des übernächsten sagt oder die des ersten? Trotzdem, wir fanden keine Lösung. Ich denke, zwei Stunden später – die anderen Nachbaren waren schon längst gegangen – saßen wir dann auf dem Boden und bauten Modelle mit Steinen, die die Kriegsgefangenen darstellen sollten. Und trotzdem kamen wir auf keine Lösung. Wie gut, dass der Master-Student uns da immer wieder anstachelte und sagte: „Ja, gar nicht so weit weg.“ Doch gab er auch den Tipp: „Alleine mit Papier und Stift geht es noch besser. Ich hab es dann nach sieben Stunden herausbekommen.“
Irgendwann ließen wir es dann einfach und gingen heim, es war ja eh schon spät. – Nein, ich konnte es noch nicht lassen. Ich setzte mich natürlich noch an den Schreibtisch – es war bestimmt schon nach Mitternacht – und räumte die leidigen Atomphysik-Aufgaben zur Seite (als wäre das nicht schon genug derartiger Aufgaben). Jetzt muss doch die Lösung bald da sein, dachte ich mir, während ich die Anfangsbuchstaben der Farben in kreisrunde Kriegsgefangene kritzelte und wirre Fallunterscheidungen notierte.
Nein, es kam weder eine zündende Idee noch trug die tiefgehende Analyse der Problematik Früchte. Ich legte mich schlafen und dachte, ein Opfer meiner Hartnäckigkeit, schon beim Aufwachen am nächsten Morgen wieder an die armen Kriegsgefangenen.
Die Woche darauf saßen wir wieder zusammen, bis dahin war immer noch unklar, wie man denn die Gefangenen retten könnte (eine derartig lange Konsultationszeit hätten die Russen den Gefangenen bestimmt nicht gewährt). Irgendwie kam die Idee von zahlencodierten Farben auf, zum Beispiel rot ist zwei. Und gleich kam mir auch die Lösung in den Sinn. Die Gefangenen addieren einfach jedes Mal die Zahlen, also die Farben, aller vor ihnen zusammen, vergleichen das mit der (richtigen) „Farbe“, die der Hintermann gesagt hat, und können so auf ihre eigene schließen. Der hinterste, der leider nicht mit Sicherheit überleben kann, muss nur die „Zahl“, also die Farbe, sagen, die beim Teilen der Summe aller Hüte durch drei bleibt. Dann funktioniert der Spaß.
Irgendwie blieben bei mir doch gemischte Gefühle bei dieser Sache; ich versuchte noch im Nachhinein, mir einen Reim darauf zu machen, warum wir so fasziniert an dieses Rätsel gefesselt waren. Sicherlich, irgendwie war es doch relativ schwer. Aber wenn ich mir vorstelle, wir hätten dreifarbige Leuchtdioden nach einem bestimmten Schema ein- und ausschalten oder gar nur eine Folge von drei Variablen enträtseln sollen, so wird mir klar, dass da die Begeisterung ein schnelles Ende gehabt hätte. Für einen Computer wären das genau dieselben Rechenoperationen bis zur Lösung gewesen und doch hätte uns da der Reiz gefehlt. Entscheidend war doch die Information, dass es um Leben und Tod geht, dass es also äußerst wichtig ist, das Rätsel zu lösen. So wandelte sich die nachbarschaftliche Grillgemeinschaft ganz schnell in einen Krisenstab aus Physikern und Politikwissenschaftlern (nebenbei beide prädestiniert für eine Tätigkeit in der Risikoanalyse), als Gefangene in einem Krieg zu retten war. Im Geiste sah man schon die Uniformen der bösen Russen, bäumte sich innerlich auf gegen das himmelschreiende Unrecht an den Gefangenen. Das Spiel mit den Steinen glich auch schon den Reißnägeln auf einer Kriegskarte, mit denen man mögliche Angriffstaktiken durchdiskutiert. Natürlich kamen wir deswegen nicht schneller zu einem Ergebnis; ganz im Gegenteil hinderte uns die tragende Bedeutung, die Dramatik, an einer zündenden Idee.
Was lernt man daraus?
Zum einen, dass das Umfeld, in das man eine Aufgabe eingliedert, die Motivation zur Erledigung der Aufgabe entscheidend beeinflusst. Als Beispiel denke ich da an einen anderen Nachbarn der – wenn es nach seinem Stundenplan geht – Elektrotechnik studiert. Wie trocken, wie staubig, was für langweilige Nerds. Offiziell heißt sein Studienfach aber „Regenerative Energien“ – und schon wird aus dem langweiligen Techniker  ein cleverer Held, der mit seinen klugen Innovationen Deutschland in die Energiewende führt, hin zu mehr Umweltschutz und vernünftigerer Ressourcennutzung. Natürlich löst er in seinem Studium dieselben Differentialgleichungen wie ein echter E-Techniker, doch die Motivation dürfte bei ihm wohl eine andere sein; man darf wohl vermuten, eine größere. Auch in dem Rätsel war es so: auf dem Papier ging es nur um ein paar Farben oder Zahlen, drei Zeilen waren im Grunde genug, vielleicht waren die Steine noch hilfreich. Doch der belächelte Mathe-Nerd, der einen eleganten Beweis gefunden hat, wurde durch das Umfeld der Aufgabe – die bedrohten Kriegsgefangenen – zum Lebensretter.
Zum zweiten kann man aus dieser Geschichte lernen, dass das Umfeld, in das das eigentliche Problem eingegliedert ist, einer vernünftigen Lösung auch im Weg stehen kann. Bei der dramatischen Situation, bei der es um Leben und Tod geht, wo ein Held eine Idee braucht, wo Schüsse fallen und Leichen hinter noch lebenden liegen, denkt man wohl kaum als erstes an ein paar Zahlen und an das Teilen mit Rest. Der Mensch lässt sich oft zu sehr von eigenen, manchmal sogar naiven Emotionen leiten und kommt so nicht zu einer pragmatisch-genialen Lösung, sondern eiert herum, wenn er nicht sogar gänzlich falsch entscheidet. In die Richtung spielt, wie ich meine, auch unser Verhältnis zu Tieren: das kleine Katzenkind, das putzige, wird liebkost, geknuddelt – und zum Fressen bekommt es die Schlachtabfälle von tierunwürdig gehaltenen Schweinen (mit ebenso niedlichen, schwarzen Augen). Man muss sich als Mensch dessen bewusst sein, wie sehr die eigene menschliche Sichtweise einem im Denken beeinflusst und eben auch hindert. Da scheint dann auch die kühle nüchtern-wissenschaftliche (und leider oft auch unbeliebte) Denkweise zu einem schnelleren und besseren Ergebnis zu führen. Wer weiß, ob der Herzchirurg, der bei einer Operation nicht mehr oder weniger empfindet als beim Lösen eines fünfdimensionalen linearen Gleichungssystems, nicht die besseren Ergebnisse liefert als der gefeierte Held und Staroperateur.
Zum dritten kommt mir noch eine andere Sichtweise auf die Sache in den Sinn. Die zweifelsfrei erfundene Rahmenhandlung der Kriegsgefangenen macht aus einem wirklich lächerlichen Problem – Zahlen addieren, mit Farben herumspielen – etwas scheinbar Bedeutsames (und eben wirklich nur scheinbar). Sie lockt durch ihre Wichtigkeit (denn natürlich erachtet ein Mensch das Leben von 100 anderen Menschen als sehr wichtig, ginge es um eine echte Begebenheit) und zieht einen so in ihren Bann, bis denn endlich das Problem gelöst ist. Wie traurig, wenn man nachher erkennt, dass man seinen eigentlich gemütlichen Abend am Schreibtisch mit einem Kinderrätsel zugebracht hat! Ich denke da auch an den Unterschied zwischen dem Physik- und dem Mathematik-Studium. De facto geht es um (relativ komplexe) Operationen mit Symbolen, doch während ein Mathematiker die schöne Form seines Idealkonstruktes genießt, will der Physiker die tiefen, inneren Zusammenhänge der Welt im Faustischen Sinne verstehen. Wie schrecklich, wenn er dann auf einmal merkt, dass das doch nur ein paar kleine, lächerliche Vektoradditionen sind, die als Kopplung quantenmechanischer Drehimpulse so viel Zeit geraubt und Kopfzerbrechen beschert haben. Oder auch an einen ehemals treuen Anhänger einer Sekte, der auf einmal merkt, dass seine wundertätigen, Chakren anregenden Heilsteine nichts sind als ein wertloses Mineral. Oder an den Arzt, der einmal Menschen retten wollte, und dann als Halsnasenohrenarzt doch nur den Leuten so manches aus der Nase zieht.
Man kann diese drei Punkte bestimmt zusammenfassen und da denke ich an Worte des Philosophen Seneca: nämlich dass es im Grunde gar nicht so sehr auf Dinge an sich ankommt, sondern vielmehr darauf, wie wir dazu stehen. Es ist wichtig zu entscheiden: wie stehe ich dazu, was bedeutet mir das? Und: wie stehen andere Leute dazu, was bedeutet es ihnen? Genauso darf man nicht außer Acht lassen, was wohl die objektive (sofern es das gibt) Bedeutung ist, was tatsächlich erwartbare Konsequenzen sind. Und vor allem schadet es nie, auch einmal die Perspektive zu wechseln, die eine oder andere Sichtweise zuzulassen und einen persönlichen Mittelweg zu finden.
Peng.
(Ich hatte die Wahl zwischen rot, gelb und blau und habe als Mittelweg grün gesagt. Das war der Ideale Tod.)

Die zweite Mutter

14. 7. 2012

Von einer Mutter kommen wir, sie war der Urgrund unseres Lebens. Sie war die sanfte Geborgenheit, die weiche Liebe, die nährende Fürsorglichkeit, in der es uns als eigenständiges „Ich“ noch gar nicht gab. Es kam die Zeit, da trennten wir uns, durchschnitten die Nabelschnur der Mutterbindung, sorgten selbst und brauchten die Liebe nicht, da wir sie ja jetzt selbst gaben.

Mir kam der Gedanke, dass man auf eigenartige Art und Weise eine zweite Mutter erwartet, zu der man zurückgeht. Die man jetzt schon in ihrem leichten, liebevollen Wehen erahnt, während einem die Gewissheit ihrer Existenz in einem frischen Schauer die Haare aufstellt, in ehrfürchtig-ängstlichem Staunen. Die zweite Mutter, in deren Schoß wir zurückfallen, so scheint mir, ist die Erde, ist der Tod.

Nein, zu pessimistisch! Ist unsere zweite Mutter nicht eher im Tod – oder vielmehr sogar dahinter? Ist sie nicht das göttliche Wesen, dass wir ein Leben lang nur erahnen dürfen, eine zweite Mutter, wenn man endlich in die Sorglosigkeit durch Fürsorge zurückfallen dürfen, wenn wir der leidigen Aufrechterhaltung des eigenen „Ichs“ müßig geworden sind? Keine schlechten Aussichten, für den, der Mutterliebe erfahren hat, und ein sehr erstrebenswerter Glaube, der einem den Tod doch auch mit einer gewissen erdig-duftigen Süße erhellt. Dann erst erfährt der Mann endgültige Glückseligkeit, wenn er in seinem Ende zu einer Mutter zurückkehrt, dann letztendlich erst ist er vereint wie anfangs.